Bericht der Zeitzeugin Ludwika Kot, geb. Kukielka

Erinnerungen (Auszug) eines „Kindes von Zamojszczyzna“

von Ludwika „Ludka“ Kot, geborene Kukiełka

I. Das Jahr 1939. Der Krieg

Im September 1939 erreichte ich das Schulalter und sollte eingeschult werden. Die Geschichte drehte aber ihr grausames Rad und schrieb für diese Generation ein ganz anderes Drehbuch.

Schon mit den ersten Stunden des Krieges erlebten die Menschen die Unruhen und die Unsicherheit, die mit dem Einzug von fremdem Militär, Luftangriffen und mit alldem, was der Krieg mit sich bringt, verbunden waren. Diese Unruhen und Ängste dauerten ganze sechs Jahre. In den ersten Kriegstagen versteckten sich die Einwohner unseres Dorfes mit ihrer gesamten Habe in den Wäldern. Auch unsere Familie. Nach einer Weile kehrten wir zurück ins Dorf.

Bald kamen die Soldaten der Besatzungsmacht. In unserem Haus, in der noch nicht vollendeten Stube, wurde für die Soldaten, die in unserer Gegend stationiert waren, ein Militärlebensmitteldepot untergebracht. Die Wachsoldaten benahmen sich uns gegenüber sehr wohlwollend, machten uns Kindern kleine Geschenke und fotografierten die Einwohner.

Etwas später erfolgte der Abmarsch der Streitkräfte der Besatzer Richtung Osten und unsere Region übernahm die Gestapo-Administration mit dem Sitz in Bilgoraj. Das Leben schien sich zu normalisieren. Es war jedoch tatsächlich nur der Schein. Die Repressalien gegenüber der Zivilbevölkerung nahmen mit jedem Tag zu. Hier und dort erfolgten die Verhaftungen, Abtransporte von Jugendlichen zur Zwangsarbeit in das III. Reich1. In einem solchen Kontingent befand sich unser Onkel Franek. Die Verhaftungen endeten dramatisch, z. B. im Falle des Priesters Mikolaj Kostrzewa aus Majdan. Ein paar Wochen nach seiner Verhaftung kam die Nachricht, dass er im Konzentrationslager Dachau gestorben ist. Das tägliche Leben wurde zu einem Alptraum, der jeden Tag und jede Nacht mit Angst erfüllte. Es betraf jedem, unabhängig von seinem Alter. Wie ich bereits erwähnte, wohnten wir in der Nähe der Dorfschule. Die Lehrerin beschäftigte unsere Mutter als Hausmeisterin. Eines Tages ging sie wie immer zur Arbeit. Als die Gestapo, die mit Autos aus Richtung Bilgoraj kam, sie bemerkte, feuerte sie auf sie mit dem Maschinengewehr. Dass sie überlebte, grenzt an ein Wunder. Solche und ähnliche Bilder gehörten zum alltäglichen Leben der Bevölkerung des besetzten Landes.

In unserer Gegend entstand der bewaffnete Widerstand. Es gab Angriffe auf den Sitz der Gestapo, es kam zu Sabotageakten und ähnlichen Aktionen. Die Repressalien seitens der Besatzer nahmen noch zu. Die Juden und die jungen Männer wurden „pazifiziert“2 und in die Todeslager gebracht.

1940-41 ging ich zur Schule. Es war wirklich nur kurze Zeit. 1942 verhängte die Gestapo ein Schulverbot. So endete meine Bildung in der ersten Klasse. Meine Zeit verbrachte ich mit Unterstützung meiner Mama bei den Hausarbeiten und beim Hüten der Kühen. Diese schwierigste Aufgabe überhaupt übernahm manchmal mein zwei Jahre jüngerer Bruder Czesiek.

II. Pazifikation („Befriedung“) von Zamojszczyzna, 1943, (Aktion Zamosc)

Es war im Juni. Und obwohl es bereits Sommer war, waren die Tage kalt und der Himmel bedeckt. Am Morgen weidete Czesiek die Kühe bei Male Smolsko und die restliche Familie saß am Frühstückstisch. Plötzlich sahen wir aus dem Fenster die Schwarmlinie von bewaffneten deutschen Soldaten mit Hunden, die aus der Waldrichtung auf das Dorf zukamen. Unser Haus war als erstes dran. Sie drängten in die Stube, schmissen uns raus auf die Straße und durchkämmten den Hof. Es gab keine Möglichkeit irgendetwas von Zuhause mitzunehmen. Nichts passte zusammen. Einerseits war es ein sommerlicher Tag, prächtige Natur in Blüte, gedeihendes Getreide auf den Feldern, das gute Ernte versprach und andererseits das Drama der Menschen, die ihr Lebenswerk zurücklassen mussten. Der erschossene Hund und die verlassenen Haustiere. So erging es auch allen anderen Familien in unserem Dorf. Wir wurden in einer Kolonne aufgestellt, die von Soldaten mit Hunden umringt und vor sich hergetrieben wurde. Zu der Kolonne stieß noch mein jüngerer Bruder Czesiek, Augen voller Tränen und blau vor Angst. So waren wir aber alle zusammen und allein das zählte. Er hatte viel Glück, weil alle diejenigen, die auf den Feldern arbeiteten oder das Vieh hüteten, durch die Deutschen umgebracht wurden. So starb die Schwester unserer Schwägerin Janka Szczachor, das kleine Mädchen, das die Kühe hütete. Das Eintreiben von Menschen und Durchkämmen vom Terrain wurden mit deutscher Gründlichkeit durchgeführt. Haus um Haus, Anwesen um Anwesen. Einige Einwohner nutzten die Zeit, bevor die Soldaten kamen, um das Nötigste, meistens etwas zum Essen (Brot) mitzunehmen. Unsere Großmutter Frania nahm sogar einen Schafspelz, mit dem sie uns später aufwärmte. So wurde das gesamte Dorf von Menschen entleert und die gespenstische Kolonne von Getriebenen mit den weinenden Kindern wuchs und wuchs. Sie wurde im letzten Hof des Dorfes, der der Familie Grzyb gehörte, angehalten. Der Hof wurde von den Soldaten und Hunden so eng umstellt, dass selbst die sprichwörtliche Maus keine Chance gehabt hätte, zu entkommen. Nun stieg unsere Angstaufregung rapide, da am Vortag die gleiche Aktion in einem Dorf, das ein paar Kilometer von Smolsko entfernt lag, durchgeführt worden war. Dort wurde eines der Häuser, in das die Einwohner reingetrieben wurden, mit Benzin begossen und angezündet. Auf die Rauslaufenden wurde geschossen. Die Eingeschlossenen im Hof weinten laut, beteten und sangen flehende Kirchenlieder. Bis heute kann ich die Supplikationsgebete nicht mehr hören. Die Deutschen schrien ”Stille, Stille!- d.h. Ruhe. Das Ganze schien kein Ende zu haben. Spät nachmittags durften einige Frauen mit den kleinen Kindern, so auch unsere Tante Marianne mit Franek und kleinem Janek, nach Hause. Die Großmutter Frania und ihr Mann Wojtek mussten aber mit uns auf dem Hof von Grzyb bleiben. Es waren nicht viele, die solches Glück hatten wie unsere Tante.

Am Abend kamen die Lkw und ein Dolmetscher verkündete, dass die Menschen statt der hölzernen Häuser die gemauerten bekommen werden. Wir sollten den Ort aber verlassen. Hier gäbe es zu viele Banditen.

Ein Teil der Abtransportierten, so wie unsere Familie mit Großmutter Frania kamen in das Lager in Zamość und der andere Teil, auch der Onkel Wojtek kam ins Lager Majdanek. So sah der Beginn unserer Vertreibung aus.

III. Lageraufenthalte in Polen

Wir kamen in der Nacht an, wurden wie eine Ware ausgeladen und in eine Baracke getrieben. Das verstreute Stroh auf dem Boden war gleichzeitig unsere Unterlage und unsere Decke. Morgens ein Appell vor der Baracke, das Aufrufen von Namen, Rausholen aus der Gruppe (vorwiegend) von Männern, wobei sie in den seltensten Fällen zu den Ihren zurückkamen. Wie lange wir dort waren? Ich kann es nicht sagen. Die Zeit zählte für uns nicht. Es ging um ganz andere Werte: wie soll man Hunger, Kälte, Krankheiten, Appelle, die Verhörbaracke und die feindlichen Blicke des Lagerpersonals überstehen.

Ob wir was zum Essen bekamen? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich sehr hungrig war. Es war kalt. Die Bekleidung von mir und meinen Brüdern bestand aus den dünnen Leinenhemdchen, dünnen Kleidchen, dünnen Hosen. Das schmutzige Gesichtlein, ungekämmtes Haar. Wir schafften es nicht, irgendwas von Zuhause mitzunehmen. So sah unser Leben wochenlang aus. Hinter dem Stacheldraht und unter den Läufen von Maschinengewehren, die stets auf uns gerichtet waren. So war unser Alltag.

Nach einiger Zeit wurden wir in das Lager in Zwierzyniec transportiert, wo wir in den Flugzeughangars untergebracht wurden. In die Räume wurden sehr viele Menschen reingequetscht. So suchte sich jeder einen Platz, um sich hinzusetzen oder hinzulegen. Im Unterschied zum Lager in Zamosc gab es hier nicht mal Stroh. Als Liegestelle für uns alle diente der Schafspelz von Oma Frania: schmutzig, abgetragen und lausig.

Das Lager befand sich im Wald. Die Bäume, der Stacheldraht, die Wachtürme mit auf uns gerichteten Maschinengewehren. Die einzelnen Hangars waren mit Stacheldraht voneinander getrennt. Als Toiletten dienten uns die primitiven Latrinen, die auf offener Fläche ausgegrabenen Erdlöcher, mit ein paar Brettern drauf, ohne jede Abschirmung. Als Wasserbrunnen diente uns ein tiefes Erdloch mit stinkendem Wasser. Die Menschen gingen nach draußen, um zu versuchen, sich vom Ungeziefer zu reinigen. Wer zu nahe an den Drahtzaun kam, wurde erschossen. Mit eigenen Augen habe ich es gesehen, wie unser Nachbar aus Smolsko Jan Luchowski am Bein angeschossen wurde und unter Bewachung von Gendarmen durch die anderen Gefangenen aus dem Lager getragen wurde. Den Verletzten und diejenigen, die ihn raustrugen, hat man nie wieder gesehen. Einige der Gefangenen wurden zur Arbeit abgeholt. Sie gingen morgens und kehrten abends in Begleitung der Bewacher zurück. Ins Lager wurden immer neue Gefangene aus Zamojszczyzna gebracht. Die Menschen brachen zusammen, verloren den Bezug zur Wirklichkeit, wurden verrückt. Es gab die Situationen, dass die Frauen gebaren und die anderen mitgefangenen Frauen halfen dabei. Die stärkeren Neugeborenen überlebten, die Anderen hatten einfach kein Glück. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in diesem Lager Verhöre gab. Es war schrecklich: furchtbarer Hunger, Läusebefall, stinkende Klamottenreste und Ausbreitung von Krankheiten. Diese Zeit war ein Alptraum. Ich erinnere mich an das Bild, als ein Gefangener ein großes Tuch mit getrockneten Brot trug. Daneben ging ein Wächter. Als, zufällig oder absichtlich, der Inhalt auf den Boden fiel, warfen sich die verhungerten Kinder wie ein Vogelschwarm auf die Reste, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Fluchtversuche von Gefangenen endeten erfolglos und wurden mit dem Tod bestraft.

Meines Wissens war Zwierzyniec ein Übergangslager, wo man die Sortierung von Gefangenen für zukünftige Aufgaben vornahm. Unserer Familie, die später in das Schloss Lublin kam, wurde eine fremde Großmutter zugeteilt, die wir vorher überhaupt nicht kannten. Dafür wurde aber unsere Oma Frania der Familie Wolanin zugewiesen. Im Schloss wurde die Desinfektion von Menschen und Lappen, die uns als Bekleidung dienten, durchgeführt. Dabei wurden getrennte Gruppen von Frauen und Männern aufgestellt. Die Mädchen gingen mit den Frauen und die Jungs mit den Männern. Vor den Baderäumen mussten sich alle nackt ausziehen, was zur Überzeugung führte, dass es Gaskammern waren. Es waren aber nur Bäder. So wurden die Gefangenen zum Abtransport in das III. Reich vorbereitet. Nach der Reinigung und Entlausung hat man uns Essen gegeben. Die Essensration bestand nur aus Grütze. Das wichtigste war aber, dass man sich satt essen konnte. Viele haben es mit dem Leben bezahlt, da die Gastritis zum grauenvollen Tod führte. Auch unsere Mutter erkrankte schwer.

Später, zum Abtransport ins III. Reich wurden wir auf die Viehwaggons verladen. In den Waggons standen wir so eng zueinander, dass die Einnahme einer anderen Position unmöglich war. Für die Luftzufuhr sorgten vergitterte Fenster in der Decke. Die Waggontüren waren dicht verriegelt. Die Menschen entleerten sich dort, wo sie standen. Ich erinnere mich, dass es den Männern gelang, ein Brett aus dem Fußboden zu schlagen, so konnten wenigstens diejenigen, die in der Nähe standen ihre Notdurft in das Loch erledigen. Der Gestank und die Müdigkeit waren unerträglich. Aus dem gesamten Transportverlauf kann ich mich nur an zwei Aufenthalte erinnern, während deren wir für kurze Zeit nach draußen gelassen wurden. Ich weiß es nicht mehr, wie lange die Reise dauerte An der Stelle möchte ich diesen schwierigen und voller Dramatik erfüllten Abschnitt unseres Lebens abschließen.

IV. Das III. Reich3

Unser Reiseziel war Nordrhein-Westfalen. Es könnte Düsseldorf oder Wuppertal gewesen sein. Unsere erste Bleibe war vermutlich das Gebäude einer ehemaligen Kaserne. In der ersten Nacht wurden wir mit Fliegeralarm und Bombardement begrüßt. Wir mussten an der Mauer stehen bleiben, bis der Alarm aufgehoben wurde.

zu viele Mäuler zum Essen“

Bald wurden wir zu einem deutschen Bauern gebracht. Dort waren wir ein paar Tage. Die Bäuerin war der Meinung, dass unsere Familie nicht ihren Erwartungen standhielt. Mit nur zwei Erwachsenen und drei kleinen Kindern waren es zu wenige Hände zum Arbeiten und zu viele Mäuler zum Essen. Sie gab uns einige Kinderkleider und der Bauer lieferte uns beim Arbeitsamt ab.

Gummersbach und die Spinnerei und Strick- und Wirkwarenfabrik

Die nächste Station war die Industriestadt Gummersbach und die Spinnerei und Strick- und Wirkwarenfabrik von Emil Wilhelm Sondermann. Wir wurden einer Gruppe der Ausländer angeschlossen, die bereits in seiner Fabrik beschäftigt waren. Es waren Familien aus Polen, Russland und Italien. In unserem Lager (Beckestr. 3) waren sowohl die Familien als auch die Alleinstehenden untergebracht. Die Wohnbaracken befanden sich bei der Fabrik. Jeder Familie stand eine Zeile zur Verfügung. Die Ausstattung bestand aus den mehrstöckigen Schlafpritschen, gemeinsamen Waschbecken und Toiletten. Ein paar Schritte weiter befanden sich die Küche, die Kantine und das Büro des Lagerführers.

Das Leben im Lager, verglichen mit den Lebensbedingungen der Menschen in den besetzten Ländern, war relativ gut. Unser Czesiek erkrankte sehr schwer. Die Masern und die Lungenentzündung hatten dramatische Auswirkungen bei dem kleinen Kind. Es grenzte an ein Wunder, dass er dank der Lagerärzte und der Hilfe von dem Lagerführer, Herrn Katwinkel noch gerettet werden konnte. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass unsere Familie das Leben von Czasiek den Deutschen zu verdanken hat. Auf einem Foto, das ich noch habe, sind eine Gruppe von polnischen Kindern, Herr Lagerführer, eine Polin, Frau Kalinowska, die Köchin und eine Russin, die Helferin des Lagerführers, zu sehen. Unsere Mutter, als sie hochschwanger war, wurde von der Arbeit in der Fabrik befreit und für die Küchenarbeit eingeteilt. Ich habe es noch in Erinnerung, dass sie einen Unfall hatte. Sie war in den Keller gefallen, wo das Gemüse aufbewahrt wurde. Es war ein gefährlicher Unfall. Es ist wahrscheinlich, dass das Muttermal auf dem Rücken von Maryla, mit der sie schwanger war, dabei entstand. Alle Einwohner des Lagers arbeiteten an den Webstühlen in der Fabrik.

Für die Arbeit in der Fabrik bekamen sie eine Entlohnung. Es waren keine großen Summen, aber immerhin etwas. Sie wurde auch mit anderen Arbeiten beschäftigt. Unser Vater fuhr oft mit dem Pferdewagen im Auftrag seines Abteilungsmeisters. So holte er diverse Sachen, die er gerade brauchte, ab. Meine Mutter ging Putzen in der Villa von Herrn Sondermanns Tochter. Unser Heim war nicht abgeschlossen. Man durfte während der Freizeit in die Stadt gehen. Es kamen zu Besuch die Polen, die in den anderen Fabriken oder in den privaten deutschen Häusern beschäftigt waren. Ich erinnere mich an zwei reizenden Polinnen, die uns mit Fahrrädern besuchten. Ich möchte betonen, dass wir sowohl von den deutschen Nachbarn, als auch von den Deutschen, die mit uns zusammen in der Fabrik arbeiteten, freundlich behandelt wurden. Sie schenkten uns Kleidung und sogar Leckereien. Die Kinder aus unserem Heim betreute ein junges deutsches Fräulein, das auch für deren Hygiene sorgte. Einmal monatlich kam ein katholischer Priester ins Heim. In der Mensabaracke hielt er für uns die Messe und erteilte die Kommunion. Wie ich schon sagte, wir durften unsere Landesleute aus Gummersbach treffen. Es gab auch keine Beschränkungen bei der Korrespondenz mit den Verwandten aus Polen und Deutschland. Unser Vetter Franek, der bei Koblenz bei einem Bauer arbeitete kam auch uns besuchen. Trotz dieser normalen, menschlichen Bedingungen, wurden jedoch die Menschen aus den besetzten Gebieten entsprechend gekennzeichnet. So hatten die erwachsenen Polen auf der linken Seite ihrer Kleidung einen Buchstaben ”P” angenäht. Die anderen Nationen hatten ihre eigenen Bezeichnungen. Die Kinder aus unserem Lager trugen diese Bezeichnungen nicht.

Ein Teil der Fabrik von Herrn Sondermann arbeitete für den Militärbedarf. Dort wurden Kanonenbürsten produziert. Für diese Arbeit wurden die älteren Lagerkinder engagiert. Auch ich arbeitete einige Zeit dort. Unser Vater, der dabei durch den Lagerführer unterstützt wurde, wandte sich an Herrn Sondermann mit der Bitte, die gesundheitlich schwächeren Kinder von dieser schweren Arbeit zu befreien. Dieser Bitte wurde stattgegeben.

Eine große Gefahr für uns alle, auch für die Deutschen, stellten die Luftangriffe dar, die sowohl in der Nacht, als auch am Tag kamen. Die Sirenen warnten dauernd vor der Gefahr. Die Fabrikmitarbeiter und diejenigen, die in der näheren Umgebung waren, gingen in den Bunker unter der Fabrik. Es gab auch die Schutzeinrichtungen, die außerhalb der Fabrik, in den Felsen eingemeißelt waren. Dort versteckten sich die Einwohner und auch ich, wenn die Eltern nicht bei uns waren. Ich lief oft mit den Brüdern dorthin. Für die Industriecenter, Großstädte und Militärs waren diese Luftangriffe sehr gefährlich. Als die Front sich den Grenzen des III. Reichs näherte, waren sie stets an der Tagesordnung.

8. Dezember 1944. Das kann man nicht vergessen

Der Morgen war nebelig, der Himmel bedeckt. Alarm!!! Die Menschen liefen in die Bunker, die Mutter und mit ihr der Vater in die Sanitätsstube der Fabrik, weil unsere Schwester Marysia sich diesen Tag aussuchte, um auf die Welt zu kommen. Wir drei, also Ludka, Czesiek und Stach in den Unterfabrikbunker. Über unserer Stadt wütete das Bombardement. Die Flugzeuge bombardierten den Zug, der die Militärgüter transportierte. Die deutschen Jagdflugzeuge griffen die amerikanischen Bomber an, die die Bomben ziellos überall abwarfen. Die Angst der Menschen war unbeschreiblich. Und Mama und Papa in der Fabrik ganz allein, ohne Arzt. So kam unsere Marysia auf die Welt. Ich habe so ein Bild vor Augen: ein junger, schwarzhaariger Herr kam mit in den Bunker. Nach dem Luftangriff, beim Verlassen des Bunkers waren seine Haare weiß. Nur innerhalb von ein paar Stunden ergraute er. Dies kann die psychischen Zustände der Menschen gut widerspiegeln. Ich kann es nicht beschreiben, was ich alles in diesen Schreckensstunden erlebte. Eine riesige Hölle des Feuers, das Heulen von Flugzeugmotoren, die Bombendetonationen. Es war der Tag, an dem die Stadt Gummersbach viele Menschenleben verlor, in der Luft, in den Häusern, auf den Straßen. Und an so einem Tag kam in die Familie unsere Schwester Maria!

Die Jahre 1944 – 1945- Die letzten Monate des Krieges.

Es waren sehr schwere Zeiten für alle, sowohl für die Gefangenen, als auch für die Deutschen. Wir haben uns kaum ausgezogen, immer zur Flucht in die Bunker bereit, in denen sich das Leben abspielte. Die Deutschen und die Ausländer waren in ihrem Leiden vereint. Eines Nachts liefen wir zum Luftschutzbunker und in der Panik war ein 3jähriges, polnisches Kind, Wiesio Stasiak, in den Fluss (Becke), der an der Fabrik vorbeifloss, gefallen und ertrunken. Nach dem Bombardement meldeten die Eltern das Verschwinden des Kindes. Die Stadtverwaltung leitete die Suchaktion ein. Nach drei Wochen wurde seine Leiche weit entfernt von der Fabrik gefunden. Die Flussströmung brachte sie weit weg vom Unfallort. Auf einem Foto ist Wiesio noch mit uns zu sehen. 4

Noch ein Zeitbild. Ein Tag wie immer, Mama und Papa bei der Arbeit. Die Sirenen rufen zum Verstecken. Ich nahm Marysia auf den Arm, Czesiek und Staszek neben mir, laufen wir zum Schutzbunker außerhalb der Fabrik. Mama, die wusste, wo wir sein würden, läuft von der Fabrik aus auch zu diesem Bunker. Der Pilot, der gerade über die Schienen flog, sieht die laufende Frau, senkt den Flug seiner Maschine und schießt mit einer Serie aus dem Maschinengewehr auf sie. Es ist nicht zu erklären, dank welchem Wunder sie überlebte. Sie wurde bewusstlos und stand nach Ende des Luftalarms von den Schienen auf..

Um dieses Ereignis besser zu veranschaulichen, versuche ich seinen Lageplan darzustellen. Ein großer Fabrikkomplex. 300 m nördlich befand sich ein Wasserreservoir, östlich verliefen die Bahnschienen, wie der Fluss heißt, der von der südlichen Seite die Fabrik umfloss, weiß ich nicht mehr (vermutlich Becke). Die Arbeiter aus unserem Lager, um in die Fabrik zu gelangen, gingen über eine kleine Brücke. Um uns herum die wunderschöne, bergische Landschaft Nordrhein-Westfalens, bewachsen mit den Lärchen, mit den prächtigen Villen an den Berghängen. Östlich, hinter den Bahnschienen der Luftschutzbunker, in den Felsen gemeißelt, über den ich schon berichtete.

Das Jahr 1945, April – Mai

Die Front näherte sich unserer Stadt. Der Lagerführer, der keine Lebensmittel mehr hatte, um seine Schutzbefohlenen zu ernähren (selbst das Unkraut um das Lager herum, aus dem die Suppe gekocht wurde, war nicht mehr zu finden), entschied sich das Lager zu öffnen und uns frei zu lassen. Doch keiner von unseren Mitbrüdern ging. Wohin auch? Die Arbeit in der Fabrik wurde abgebrochen. Die meiste Zeit verbrachten wir in den Bunkern, da die Bombardements und der Artilleriebeschuss zur Tagesordnung gehörten. Wir waren im Luftschutzkeller unter der Fabrik als zu uns die ersten amerikanischen Soldaten kamen. Die Unsicherheit dauerte 2 -3 Tage. Die Kämpfe dauerten, bis die Amerikaner endlich die Stadt eroberten. Man verkündete uns, den Gefangenen des Lagers, dass das Kriegsrecht uns die Möglichkeit gibt, innerhalb der nächsten 24 Stunden mit unseren Verfolgern abzurechnen. Die verhungerten Menschen gingen los auf die Geschäfte. Auf dem Fabrikgelände befand sich ein Lager mit Lebensmitteln für deutsche Soldaten. Die Schlösser wurden aufgebrochen, die Türe aufgeschlagen und alles, was man essen konnte, rausgeholt: Der Hunger der letzten 2 Wochen hatte das Seine getan.

Brauweiler

Kurz danach wurden wir Polen in die Ortschaft Brauweiler gebracht, die sich in der amerikanischen Besatzungszone befand. Am Ort wurde das alltägliche Leben organisiert, das menschenwürdig war. Jeder Familie wurde ein Wohnlokal zugeteilt, vor allem wurden wir aber eingekleidet und mit den notwendigsten Sachen, die man für das Leben braucht, ausgestattet. Jeder Erwachsene und jedes Kind bekam ein sehr großzügiges Lebensmittelpaket, einschließlich Süßigkeiten und Früchten sowie Hygienemittel. Bedarfsabhängig wurden diverse Stufen von Schulen organisiert, die Sportklubs und Pfadfindergruppen gegründet. So begann sich das Leben langsam zu normalisieren. Die Menschen wurden darauf vorbereitet, die Entscheidung zu treffen, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen wollen. Die Familien aus der amerikanischen Besatzungszone, die während des Krieges in den diversen Lagern oder den privaten deutschen Häusern untergebracht waren, taten sich zusammen. So kamen zu uns nach Brauweiler Onkel Franek mit seiner Verlobten Fela.

Das englische ”Rote Kreuz” kümmerte sich um die Gesundheit der Kinder. Die kinderreichen Familien aus dem Lager wurden in Brauweiler in den Ort Will gebracht und in einem sehr schönen Hotel einquartiert. Es waren einige Familien, auch unser Onkel und Fela waren dabei. Unser Vater Antoni wurde zum Kommandanten des Zentrums ernannt. Bei den Kindern unserer Familie Ludka, Czesiek und Stach bestand Verdacht auf Tuberkulose. Es wurde mit intensiver Therapie begonnen. So wurde Czesiek in einem 10 Km von Will entfernten Krankenhaus untergebracht. Nach ein paar Tagen gelang ihm die Flucht. Er kehrte zurück zu seiner Familie. Im Krankenhaus brach eine Panik aus. Um die Behandlung fortzusetzen, wurde dem ”Flüchtling” seine Schwester Ludka beigegeben und die Überwachung von Patienten verbessert. Nach dem Krankenhausaufenthalt wurde den Kindern weitere klimatische Rehabilitation in der Schweiz angeboten. Es betraf aber nur die drei Kinder: Ludka, Czesiek und Stach. Die Eltern und das jüngste Kind Maryla sollten in Deutschland bleiben. Selbstverständlich begann ich so sehr „gesund zu werden“, dass keine Rede mehr über eine Trennung von den Eltern war.

Unser Vater entschied sich nach Polen zurück zu kehren. Mama wollte nicht nach Polen zurück. Es bestand die Möglichkeit, von der viele Gebrauch machten, in den diversen europäischen Ländern wohnhaft zu bleiben. Und nicht nur das. Einige haben die Ausreise nach Australien oder Amerika gewählt. Wir wählten Polen.

Wieder daheim?

Nachdem am 30. Mai 1946 die Edukation von den älteren Kindern in Brauweiler beendet war, kehrten wir im Juni dieses Jahres auf dem Landweg nach Szczecin in Polen zurück. Die Zugreise dauerte sehr lange. Ende Juni waren wir in Zwierzyniec und von dort erreichten wir mit der Schmalspurbahn Bilgoraj. Von Onkel Franek haben wir uns in Szczecin getrennt. Sie sind nach Koluszki gefahren, wo die Familie von Fela wohnte.

Wir kamen zu den Großeltern nach Majdan. In Smolsko gab es nichts, zu dem man zurückkehren konnte. Das Haus stand zwar immer noch, aber von unserem Hab und Gut blieb nur ein Bild in unserem Gedächtnis. Es war noch eine Kuh, die wir bei Luchowski fanden. In Majdan waren wir nur ganz kurz. Nicht ganze zwei Monate. Es sollten Franek und Fela kommen und bei den Großeltern wohnen. Uns wollte niemand dort haben. Der Vater musste wieder sein Erbe an den jüngeren Bruder abtreten. In der Situation nahm er den Kontakt zu Franek Wolanin auf, der nach dem Krieg auf dem Anwesen seines Herren, bei dem er während des Krieges als Sklave arbeitete und im Ort Karlshof, heute Jarogniew blieb. Ende August fuhren wir zu ihm ”Nach Westen”. Die drei älteren Kinder wurden eingeschult in Groß Jestyn (Gostyn), heute Stadt Goscino:

  • Ludka, Ludwika IV Klasse. Jahrgang 1932, sie wurde Lehrerin, später Schuldirektorin, wohnt heute in Pila.
  • Czesiek – Czesław III Klasse. Jahrgang 1934, hatte einen Hof in Goscino, wo er starb und beigesetzt wurde.
  • Staszek – Stanislaw II Klasse. Jahrgang 37, nach abgebrochener Priesterausbildung wurde Kantor in Goscino, später arbeitete in der Eisenhütte in Sosnowiec. 1982 wegen Aktivitäten bei der Solidarnosc durch das Regime zur Auswanderung nach USA gezwungen, wo er zuletzt in Youngstown, Ohio, als Stahlarbeiter tätig war, und wo er auch noch heute lebt.

Der Vater Antoni, Jahrgang 1906 starb 1980 bei Zosia (einem von 3 Nachkriegskinder) in Rabka. Die Mutter Aniela, Jahrgang 1914, starb 2000 in Goscino, wo sie neben ihren Mann beigesetzt wurde. 5

Hier eine Karte des Geländes, wie es damals aussah:

Kartenquelle: GeoPortal NRW (https://www.tim-online.nrw.de/tim-online2/)

Fußnoten:

1 Mit „III.Reich“ ist das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches gemeint.

2 In der militärischen Fachsprache der Wehrmacht und in propagandistischen Darstellungen wurde „Pazifikation“ euphemistisch gebraucht, beispielsweise für die Zerstörung eines Dorfes und die anschließende Ermordung oder Vertreibung seiner Bewohner. (Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Pazifikation (25.1.2022))

3 Mit „III.Reich“ ist das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches gemeint.

4 Für den kleinen Jungen gibt es ein Grab auf dem Gummersbacher Grotenbach-Friedhof, siehe https://www.oberberg-ist-bunt.org/wordpress/gedenkstaette-auf-dem-friedhof-grotenbach-in-gummersbach/ (letzter Eintrag).

5 In einer Liste der AOK Gummersbach sind die Eltern mit den Namen „Anton“ und „Angela“ als Beschäftigte bei der Firma Sondermann in der Zeit vom 3. August 1943 bis zum 11. April 1945 geführt.